Experteninterview: „Wir sind schon vom Säuglingsalter an auf ‚umami‘ gepolt“
Viele sind sich nicht der Tatsache bewusst, dass „Glutamat“ in Form der Aminosäure Glutaminsäure in allen proteinreichen Lebensmitteln vorkommt. Auch spielt die Glutaminsäure beim Kochen eine so entscheidende Rolle, dass sie aus den meisten traditionellen Zubereitungen nicht wegzudenken ist. Der EURASYP-Newsletter sprach hierüber mit dem Experten Prof. Dr. Thomas Vilgis, Physiker am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, Autor zahlreicher Bücher zur Naturwissenschaft des Kochens sowie Vorstand der Deutschen Akademie für Kulinaristik.
Professor Vilgis, welche Rolle spielen glutamatreiche Lebensmittel beim Kochen?
Glutamatreiche Lebensmittel sind letztlich das A und O in jeder Küche und in jeder Kultur. Sie gehören zu den Basiszutaten und geben vielen Speisen und Zubereitungen den Grundgeschmack „umami“. Der Begriff stammt aus dem Japanischen und kann in etwa mit „köstlich“ oder auch „herzhaft-fleischig“ übersetzt werden. Kaum eine Sauce, ein würziger Braten oder ein aromatisches Gemüseragout kommt ohne Zutaten wie Tomaten, Tomatenmark, Zwiebeln, Pilze usw. aus – und sie alle sind reich an Glutaminsäure. Schon vom Säuglingsalter an sind wir Menschen auf die Geschmacksrichtungen „süß“ und „umami“ gepolt. Die anderen Grundgeschmacksrichtungen – also „sauer“, „salzig“ und „bitter“ – hingegen müssen wir erst erlernen.
Wie beurteilen Sie als Wissenschaftler, der sich zugleich leidenschaftlich mit Lebensmitteln befasst, würzende Zutaten wie etwa Sojasauce oder Hefeextrakt?
Sojasauce oder Hefeextrakt sind ausgezeichnete Würzmittel, die die Rezeptoren der Grundgeschmacksrichtung „umami“ ansprechen. Sie haben daher, ähnlich wie traditionelle japanische Misopasten oder -suppen eine hohe kulinarische Funktion. Jedes Gericht lebt von seiner geschmacklichen Vielfalt. Jeder Spritzenkoch weiß: Der gesamte Geschmackseindruck eines Gerichts lässt sich steigern, wenn eine Prise Zucker oder Salz, ein Spritzer Zitronensaft oder Essig zugeführt wird, selbst wenn diese Zutaten nicht prominent im Vordergrund stehen. Sie modulieren aber den Geschmack. Auch der Spritzer Sojasauce oder eine kleine Menge Hefeextrakt triggern die umami-Rezeptoren auf eindrucksvolle und vielfältige Weise. Ein kleiner Tropfen Sojasauce oder eine Löffelspitze Hefeextrakt kann in einem leichten, sommerlichen gemüsereichen Salat kleine Geschmackswunder erzeugen. Dies gilt vor allem für vegetarische oder vegane Zubereitungen. Ihre Kochzeiten sind oft kürzer und die Glutaminsäure wird daher in geringerem Maße aus den Proteinen freigesetzt. Hier liefern Würzen wie Sojasauce, Hefeextrakt oder Tomatenkonzentrate einen intensiven umami-Geschmack.
Wie würden Sie jemandem die Rolle der Glutaminsäure erklären, der sich zwar für das Kochen interessiert, aber kein fundiertes Hintergrundwissen zu Lebensmitteln mitbringt?
Zunächst ist die Aminosäure Glutaminsäure in jedem Protein, also in jedem langen Kettenmolekül aus verschiedenen Aminosäuren, mehrfach vorhanden. Besonders in denjenigen Proteinen, die in Hefe, Weizen, Sojabohnen und vielen Hülsenfrüchten, aber auch in Fleisch in Form von Muskelproteinen enthalten sind, kommt die Glutaminsäure in großen Mengen vor. Bohnen- und Fleischeintöpfe, Gulasch, Schmorbraten oder Saucenfonds entfalten daher nach langem Kochen einen tiefen, mundfüllenden Geschmack. Einige Proteine zerfallen in Bruchstücke und Aminosäuren. Hierbei wird Glutaminsäure frei und löst erst dadurch auf der Zunge den Geschmackseindruck „umami“ aus. Proteinbruchstücke aus zwei oder drei Aminosäuren, die die Glutaminsäure enthalten, bewirken übrigens einen starken Eindruck von „Mundfülle“, wie man ihn zum Beispiel auch beim Genuss einer lange gereiften Käsesorte hat. Auch dafür gibt es im Japanischen einen Begriff: kokumi.